Stumme Schreie: Roman
Es ist ein Krimi, ohne Zweifel, und was für ein Gelungener! Aber gleichzeitig ist es auch die bezaubernde, heftig anrührende Geschichte eines in die Jahre kommenden Mannes, der sich auf den Weg nach Indien macht, um dort, fasziniert von einem Bildband, die Frau fürs Leben zu finden. "I came to find a wife", sagt er nach seiner Ankunft und steht so mutig, naiv und geradlinig zu seinen Gefühlen und Wünschen, dass man geradezu bewundernd und ganz gefangen bei der Lektüre lächelt. Und natürlich findet er sie, seine große Liebe: "Für ihn war die ganze Welt stehengeblieben". Und dann das: Wer um Himmels willen ist die junge, tote Frau, zart, dunkelhäutig, mit schwarzen langen Haaren? Für den bei Karin-Fossum-Fans bereits bekannten, wortkargen Kommissar Sejer wird es ein ungewöhnlich grausamer Fall. Aber auch bei der detektivischen Polizeiarbeit drängt sich in dem Buch nicht das Kriminalistische in den Vordergrund. Vielmehr verblüffen vorsichtige Schilderungen über spontane Mutmaßungen, voreilige Verdächtigungen, Beschuldigungen, Redereien: Die vermeintlich feste und unantastbare Gemeinschaft in dem idyllischen Ort ist wie verwandelt, aus dem dörflichen Miteinander wird plötzlich ein zweifelbeladenes Abstandnehmen. Jeder verdächtigt jeden. Der norwegischen Autorin, bereits mit den renommiertesten Krimipreisen ihres Landes ausgezeichnet, liegen die sensiblen Strukturen menschlichen Zusammenlebens am Herzen: die Frage, was wird, wenn einer aus der Reihe tanzt und wie sich eine kleine Gemeinschaft verhält, wenn ein Verbrechen passiert. Zart, einfühlsam, menschelnd einerseits, faktenorientiert, aufklärend andererseits -- eine Komposition zweier Sichtweisen, die außerordentlich gelungen ist und auf knapp 320 Seiten nicht eine Sekunde lang an Spannung verliert. --Barbara Wegmann