Die Kirche der toten Mädchen
Stephen Dobyns" Die Kirche der toten Mädchen ist zweierlei: ein packender Thriller und ein Psychogramm einer Kleinstadt. Diese Mischung ist brisant. In einer Kleinstadt im amerikanischen Nordwesten verschwinden nacheinander drei Mädchen spurlos. Der Täter schickt die Kleidung der drei sauber gereinigt und zusammengefaltet zurück. In einer Stadt mit rund 7.000 Einwohnern, wo jeder jeden kennt -- oder zumindest zu kennen glaubt -- müssen solche Verbrechen Aufregung hervorrufen. Liebevoll baut Stephen Dobyns die Szene vor dem geistigen Auge seiner Leserschaft auf: Wer arbeitet wo? Wer hat mit wem für wie lange ein Verhältnis? Wer hat welche Marotten? In diese heile Kleinstadtwelt bricht das Verbrechen ein. Eine Gruppe von Bürgern bildet sich, die sich auf der allgemeinen Suche nach dem Verbrecher immer mehr Rechte herausnimmt und am Ende sogar Anordnungen der Polizei mißachtet. Der Autor läßt den Leser mitfühlen, wie die Panik in der Stadt immer größer wird, bis Unschuldige ermordet, die Wohnungen Unbeteiligter verwüstet werden, Kinos und Cafés leer bleiben und statt dessen der Pizza-Service Konjunktur hat. Der Autor läßt den später brutal ermordeten Lehrer seinen Schülern eine wesentliche Erkenntnis mitgeben: "Wer anders ist, eignet sich zum Sündenbock." Die Polizei folgt dem üblichen Verfahren: Die, die ohnehin schon aufgefallen sind, nimmt sie als erstes unter die Lupe. Um dann ziemlich blamiert einsehen zu müssen, daß ein angesehener und bisher völlig unverdächtigter Bürger der Schuldige ist. Was der Mörder mit den drei Mädchen gemacht hat, wird zur Nebensache. Den lesenden Kleinstadtbürger beschleicht das beklemmende Gefühl, daß morgen das gleiche in seiner Stadt passieren kann. Zu realistisch, zu lebensnah ist das Beschriebene. Nie läßt der Autor den Eindruck aufkommen, es werde übertrieben. Genau das macht das Buch lesenswert. Irgendein billiges Happy-End? Fehlanzeige! Wer nach 462 Seiten das Buch zuklappt, wird nachdenklich. Ist man nicht selbst auch schnell mit vorschnellen Schuldzuweisungen bei der Hand? --Corinna S. Heyn