Um die Mitte unseres Jahrhunderts gab es in Paris eine Reihe von Sängern, die die typische Stilistik der französischsprachigen Oper in unnachahmlicher Weise beherrscht und in Aufnahmen dokumentiert haben. Hier und da tauchen diese Produktionen wieder auf dem CD-Markt auf, und eine davon ist, etwas versteckt in der Reihe Testament, die vorliegende Aufnahme von Maurice Ravels einaktiger Oper L’Enfant et les sortilèges. Das Stück handelt von einem unartigen Kind, das aus Trotz gegenüber seiner Mutter die Möbel und Accessoires in einem Zimmer, in dem es eingesperrt ist, traktiert und beschädigt. Plötzlich erwachen die Gegenstände zum Leben und beginnen zu sprechen. Es entsteht eine bedrohliche Situation, die durch die sehr einfallsreiche, expressionistische Musik in beklemmender Weise zum Ausdruck gebracht wird. Später findet sich das Kind im Garten wieder, wo sämtliche Tiere, die es zuvor gepeinigt hatte, sich an ihm rächen wollen. Erst als das Kind ein verletztes Eichhörnchen verbindet, lassen die Tiere von ihm ab und erkennen den Sinneswandel. Das Kind ruft nach der Mutter und wird wieder ins Haus geholt. Ravels Musik zu dieser surrealistischen Szenerie entstand im Jahre 1921. Sie zeichnet sich durch eine realistische, den Hörer in den Bann ziehende, teilweise ganz fremdartige Vielfarbigkeit aus. Die französischen Sänger unter der Leitung des hervorragenden Dirigenten Ernest Bour treten, einer nach dem anderen, in den Rollen der verschiedenen Gegenstände und Tiere auf, und jede neu hinzukommende Stimme ist eine erfreuliche Überraschung im Hinblick auf sängerische Qualität und Gestaltungskraft. --Michael Wersin