Unsre allzu kurzen Sommer
Das Abenteuer einer Adoleszenz im Spannungsfeld dramatischer geschichtlicher Verwicklungen schildert der 1923 geborene Spanier Jorge Semprun (Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels 1994) in seinem neuesten Werk. Der Ausbruch des Bürgerkrieges 1936 zwang seine Familie ins französische Exil, bedeutete für den Dreizehnjährigen den endgültigen Abschied von einer behüteten Kindheit. Die vorwiegend in Paris verbrachte Zeitspanne bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 erweist sich so als zweifache Herausforderung: die Eroberung des Erwachsenseins auf fremdem Terrain. Die entscheidende Annäherung an die neue Heimat vollzieht sich dabei über Sprache und Literatur des Gastlandes. Dies unterstreichen zudem die den Kapiteln vorangestellten Zitate von Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und André Malraux. Durch das Medium der frühen Großstadtlyrik begegnet der junge Semprun Paris als untergehender "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts", die zugleich einen idealen Erlebnisraum für erste erotische Erfahrungen bildet. Wo sinnliche Eindrücke den Berichtstil auflockern, gewinnt das Kaleidoskop der mitunter verwirrenden Vor- und Rückblenden schillernde Facetten: der Duft der mütterlichen Seidenwäsche, eine voyeuristische Szene in der Métro, die heimlich liebkosten Schenkel einer Gastgeberin. Juvenile Träumereien von einst und poetisierende Rückschau setzen diese Ereignisse in ein magisches Licht. Während sich aber die Glücksmomente der allzu kurzen Sommer durch die Macht der Phantasie erneut beschwören lassen, scheitert die Obsession der Erinnerung bei dem Versuch einer identitätsbildenden Verschmelzung von Privatem und Politischem. Sie ist weder in die Formel des "Rotspaniers" noch in den Fetisch der republikanischen Flagge zu bannen, und die Fremdheit in der eigenen Existenz endet nicht mit der Rückkehr aus dem Exil. Denn: "Das Wesentliche im Leben wird erfunden." --Joachim Nagel