Eugen Onegin & Pique Dame (Qs)
Preis 39.99 USD
Wer kennt sie nicht, diese seltenen Abende: Draußen trommelt der Regen an die Scheiben, und drinnen widmet man sich selbstvergessen faszinierenden Tonaufnahmen, während der Zeiger der Uhr rasch über das Zifferblatt gleitet, bis man spät in der Nacht plötzlich bemerkt, wie viele Stunden unbemerkt verstrichen sind. Einen solchen Abend erlebte ich zuletzt an dem Tag, als mir der Briefträger die zehn soeben wiederveröffentlichten Opernquerschnitte Wilhelm Schüchters aus den Fünfziger Jahren gebracht hatte: Sternstunden des Rezensentenberufs! Und dabei war es nicht vor allem die nostalgische Erinnerung an Schallplatten aus Kindertagen, die meine Faszination verursachte, sondern immer wieder das Erstaunen darüber, wie perfekt und überzeugend viele dieser größtenteils längst verblichenen deutschen Nachkriegssänger gewesen sind, auch wenn, besonders im Falle der italienischen Opern, die hier noch verwendete deutsche Übersetzung für unsere Ohren mittlerweile sehr ungewohnt ist. Um gleich mit den echten Sensationen zu beginnen: Erna Berger, vom Stimmtyp her die Barbara Bonney oder Ruth Ziesak der ersten Jahrhunderthälfte, war zum Zeitpunkt all dieser Aufnahmen eine Mittfünfzigerin und absolvierte gerade ihre letzten Opernauftritte. Wie kann es sein, dass ihre Stimme -- ganz abgesehen von der tadellosen Technik -- klingt wie die einer Zwanzigjährigen? Als "Mimí" im Bohème-Querschnitt ist sie unübertrefflich (hier begeistern auch Hermann Prey, Dietrich Fischer-Dieskau und Erika Köth; die Sterbeszene Mimís kann nur als bewegend bezeichnet werden), und auch in der Verkauften Braut und in Madame Butterfly hält sie jedem Vergleich stand. Eine weitere, heute fast vergessene Sopran-Größe jener Tage war Melitta Muszely: Sie schlägt den Hörer u.a. als Tatjana in Eugen Onegin und als Lisa in Pique Dame in den Bann. Über ihre Partner Fritz Wunderlich (Lenski, Hermann) und Hermann Prey (Onegin, Jeletzki) in diesem Doppel-Querschnitt braucht man keine Worte verlieren: Beide befinden sich hier auf dem Zenit ihres Könnens. Melitta Muszely vermag außerdem als Traviata zu erfreuen, gemeinsam mit Josef Metternich als Vater Germont, womit wir bei der nächsten Sensation angelangt sind: Dieser fabelhafte Bariton mit der unverwechselbaren, körnig-metallischen Stimme ist auf CDs sträflich unterrepräsentiert, aber in den vorliegenden Querschnitten begegnet er uns häufiger: Als Rigoletto ist er mit seinem heldischen Timbre, bar jeder technischen Schwierigkeiten, unvergleichlich (neben der jungen, brillanten Erika Köth in der Rolle der Gilda); als Amonasro, mit der jungen Leonie Rysanek als Aida, reißt er ebenso mit wie als Dapertutto/Mirakel in Hoffmanns Erzählungen (ein weiteres Highlight dieser CD: Rita Streich als Olympia). Häufig ist natürlich auch Gottlob Frick anzutreffen, besonders lustig als Falstaff in Otto Nicolais Lustigen Weibern von Windsor, mit Erika Köth als Frau Fluth und Dietrich Fischer-Dieskau als ihrem Ehemann. Unbedingt erwähnt werden muss noch Anneliese Rothenberger, heutzutage allzu schnell in die Ecke der leichten Muse geschoben, die zusammen mit Hermann Prey in Leoncavallos Bajazzo eine Sternstunde erlebt. Manch anderes Glanzlicht auf diesen CDs muss unerwähnt bleiben. Stimmlich nicht immer problemlos, aber insgesamt doch überzeugender als erwartet, präsentiert sich Rudolf Schock in einigen Hauptrollen: Als Herzog im Rigoletto liefert er vielleicht seine besten Spitzentöne ab, und als Hoffmann gelingt ihm ein außergewöhnlich gutes Rollenporträt. Nicht erwähnt werden können hier im Einzelnen die zahlreichen Bonus-Tracks, die viele der CDs auffüllen: Da gibt es einiges zu entdecken. Alle zehn Folgen, überwiegend CD-Premieren, enthalten liebevolle und kompetente Einführungstexte. Insgesamt betrachtet, zählen sie sicher zu den Highlights der Opern-Aufnahmegeschichte, und sie sind dem Opernneuling ebenso zu empfehlen wie dem Liebhaber schöner Stimmen. --Michael Wersin