Viva Verdi! Gesamtausgabe
Wie viele Meter nimmt eine komplette Edition aller Verdi-Opern wohl im Schallplatten-Regal ein? Zum Beginn des Verdi-Jahres wissen wir die Antwort: nicht einmal einen halben Meter. Drei schlanke Papp-Boxen (Die frühen Werke, Die großen Werke, Die späten Werke) beherbergen diesen kostbaren Schatz auf jeweils 18 bzw. 19 CDs. Die Platz sparende Verpackung hat allerdings einen herben Nachteil: Pro Box gibt es nur ein einziges Booklet, das außer einer allgemeinen Einführung die Besetzungslisten und in Kürze auch die Handlung jeder einzelnen Oper enthält. Insgesamt liegt bezüglich der Auswahl der einzelnen Einspielungen ein deutliches Gewicht auf älteren Produktionen, was oft von Vorteil ist und in einigen Fällen zu einem freudigen Wiederhören führt, beispielsweise mit Carlo Bergonzi in Bestform oder mit José Carreras vor den ersten gravierenden Anzeichen von stimmlicher Müdigkeit. Im ersten Teil finden sich zahlreiche wenig bekannte Opern, von denen manche durch hervorragende Aufnahmen in viel besserem Licht erscheinen, als sie von der Kritik und teilweise auch von Verdi selbst gesehen wurden. Die allererste Oper Oberto lebt in der hier enthaltenen, 1997er Einspielung unter Sir Neville Marriner von den hervorragenden sängerischen Leistungen Violeta Urmanas und Stuart Neills; die komische Oper Un giorno di regno, hat selbstverständlich nicht annähernd die Qualität des Falstaff, aber sie ist ein sehr unterhaltsames Werk, wozu in der vorliegenden Einspielung von 1974 unter Lamberto Gardelli vor allem der hervorragende Ingvar Wixell in der Hauptrolle beiträgt. In Nabucco gibt es den großen Tito Gobbi in der Titelpartie zu genießen, und in dem Kreuzfahrerdrama I Lombardi begegnen wir Plácido Domingo und Ruggero Raimondi. I due Foscari ist eine recht erfreuliches Wiederhören mit José Carreras und Piero Cappuccilli, und Giovanna d"Arco mit der Traumbesetzung Plácido Domingo, Montserrat Caballé und Sherill Milnes (1973 produziert) wurde von EMI ausgeliehen, während Alzira mit Ramon Vargas und Slobodan Stankovic unter Fabio Luisi neu eingespielt wurde. Die zweite Folge beginnt mit einer umstrittenen Aufnahme des düsteren Macbeth: Die Griechin Elena Suliotis erfüllt Verdis eigenen Wunsch, die Lady Macbeth müsse hässlich singen und Fischer-Dieskau in der Titelpartie ist einfach kein italienischer Bariton. Brillant hingegen der junge Luciano Pavarotti als Macduff. Viel erfreulicher geht es weiter mit I Masnadieri mit Carlo Bergonzi, Ruggiero Raimondi und Piero Cappuccilli. Zur Ehre verholfen wird auch dem reinen Auftragswerk Il Corsaro, durch die hervorragende Besetzung mit José Carreras in der Titelpartie, ferner Jessye Norman und Montserrat Caballé. Unter anderem birgt diese Box noch Luisa Miller mit Plácido Domingo, Elena Obraszowa und Renato Bruson sowie das großartige Dreigestirn Rigoletto, Il Trovatore und La Traviata. Letztere erklingt erstaunlicherweise nicht in der bekannten Version mit Domingo und Cotrubas unter Kleiber, sondern in der älteren Aufnahme mit Carlo Bergonzi und Joan Sutherland, was eine sehr interessante Alternative ist. Bergonzi schlägt sich auch hervorragend als Trovatore in der gleichnamigen, mit einer unsäglichen Handlung gestraften Oper im Zigeunermilieu. Ferner enthalten: La Bataglia di Legnano und Stiffelio. In der dritten Box finden sich einige wahre Kostbarkeiten -- Wo soll man anfangen? Un ballo in maschera, aufgenommen 1970 unter Bartoletti, muss zwar mit einer etwas angeschlagenen Renata Tebaldi auskommen, erfreut sich aber der superben Leistungen von Luciano Pavarotti (Riccardo), Sherill Milnes (Renato) und Helen Donath (Oscar). Viel überzeugender ist Renata Tebaldi in der 1955 aufgenommenen Forza del Destino unter Leitung von Francesco Molinari-Pradelli. Hier bewährt sich auch Mario del Monaco, hervorragend in der Rolle des hitzigen Alvaro. Fantastisch sind hier weiterhin Ettore Bastianini als Carlo und Cesare Siepi als Pater Guardian. Etwas weniger glücklich, aber auch von solider Qualität, ist vor diesem Hintergrund der Otello mit Tebaldi und del Monaco. Bleiben wir bei den Perlen: Aida mit Leontyne Price, Jon Vickers und vor allem Rita Gorr (Amneris) ist ein Genuss; Simon Boccanegra, produziert 1989, glänzt mit dem bereits fast 60-jährigen Giacomo Aragall, der die feurige Partie des Gabriele Adorno ohne das geringste Anzeichen stimmlicher Müdigkeit meistert; hier brillieren auch Leo Nucci in der Titelpartie und Paata Burchuladze als Fiesco. Ebenfalls in einer weitgehend brillanten Aufnahme ist Verdis letzte Oper Falstaff vertreten: Der bereits über 60 Jahre alte Giuseppe Taddei liefert hier ein differenziertes Porträt der Titelpartie, flankiert von Rolando Panerai als Ford, Francisco Araiza als Fenton und der bezaubernden Janet Perry als Nanetta. Nicht ganz so glücklich macht sich in diesem letzten Teil I vespri siciliani, geliehen von EMI, mit einer nur langsam in Form kommenden Cheryl Studer und einem dumpfen Ferruccio Furlanetto. Überwiegend sehr schön hingegen Don Carlo, wiederum mit Renata Tebaldi, ferner Carlo Bergonzi, Martti Talvela, Nikolai Ghiaurov und Dietrich Fischer-Dieskau. --Michael Wersin