Die Ostdeutschen als Avantgarde
Wenn Veränderungen ins Haus stehen, werden jene im Vorteil sein, die bereits an Veränderungen gewöhnt sind. Wir Westdeutschen sind das nicht. Dass ausgerechnet die viel gescholtenen Ossis die Sieger von morgen sein könnten, klingt einigermaßen verblüffend. Wolfgang Engler aber ist überzeugt: Vorteil Ost. Ein lesenswerter Ausblick in Deutschlands Zukunft. Die neue These des Soziologen hat das Zeug, ebenso Furore zu machen wie vor einigen Jahren seine Charakterisierung der DDR als einer im Alltag "arbeiterlichen Gesellschaft". Englers neuer Gedanke liegt nahe: Kein Wessi war in seinem Leben je einem derartigen Umbruch ausgesetzt wie die Brüder und Schwestern östlich der Elbe seit der Wende. Das Hauptproblem anstehender Reformen in der Bundesrepublik aber ist die mangelnde Fähigkeit der verwöhnten Deutschen, radikale Umbrüche zu verkraften. Denn dass die Modernisierung unserer Sozialsysteme -- von Arbeitslosengeld bis Rentenanspruch -- sanft vor sich gehen wird, wenn sie wirksam sein soll, kann im Ernst niemand erwarten. Vorteil Ost: Die haben so etwas schon mal mitgemacht. Aber auch manche andere Ost-Mitgift erweist sich als Segen: Die Fähigkeit zum Improvisieren, diese Tugend der Mangelwirtschaft, gehört inzwischen zur modernen industriellen Produktionsweise. Auch Teamarbeit sind Ossis seit jeher gewohnt. West-Manager loben ihre sächsischen und thüringischen Arbeiter in hohen Tönen: Vorteil Ost. Allerdings: Was der Autor dann zur ökonomischen und sozialen Belebung der neuen Bundesländer vorschlägt, überzeugt nicht: Das "Bürgergeld" (alle bekommen eine Art Grundgehalt und brauchen bloß noch dazuzuverdienen), bleibt ein Stück aus der utopischen Mottenkiste, von der sich auch die Grünen längst verabschiedet haben. --Michael Winteroll