Der Geist des Films (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Preis 14.00 USD
"Die Grundlage der Filmkunst ist die Montage" hieß es zu Beginn der deutsche Ausgabe von Wsewolod Pudowkins Buch Filmregie und Filmmanuskript von 1928. War die Montage für Pudowkin der Generator schlechthin der filmischen Erzählung, mit dessen Hilfe der Filmemacher vor allem die psychologische Kontrolle über den Zuschauer gewinnen sollte, radikalisierte Sergej Eisenstein, der zweite wichtige Vertreter des sowjetischen Film-Formalismus, die Rolle der Montage bis zur Auflösung sämtlicher narrativer und rezeptiver Konventionen: Ihr Ziel sollte es sein, über die Konfrontation disparater Einstellungen Ideen und ganze Begriffssysteme darzustellen und zu produzieren und den Betrachter am Ende zu einer intellektuellen Katharsis zu führen. Der ungarische Schriftsteller, Filmemacher und Filmtheoretiker Béla Balázs, der zur fast gleichen Zeit seine beiden filmästhetischen Hauptwerke Der sichtbare Mensch (1924) und Der Geist des Films (1930) herausbrachte, unternahm einen Brückenschlag zwischen den beiden russischen Formalisten und entwickelte darin völlig originäre Positionen. Er war der faszinierende Inspirator Pudowkins und faszinierte Antipode Eisensteins, maßgeblicher Geburtshelfer bei der Emanzipation der Films zu einer autonomen Kunstform und zugleich kongenialer Rezipient der damals allenthalben aufblühenden Filmdiskurse. Balázs ist mit Der sichtbare Mensch der wohl kompletteste Entwurf einer Stummfilmästhetik gelungen: Durch deren zentrales formales Mittel der Großaufnahme, die die feinsten emotionalen und psychischen Reflexe in der Physiognomie des Darstellers zur Anschauung brachte, sieht er im Film die Möglichkeit, den Menschen neu zu entdecken. Lange vernachlässigte Wahrnehmungsmodi seien nun wieder zum Leben erwacht, hätte doch der Buchdruck mit der Zeit das Gesicht der Menschen "unleserlich" gemacht -- die Dominanz der visuellen Kultur fortan und ihre medientheoretischen Appendizes finden sich hier schon in weiser Voraussicht. Steht in Der sichtbare Mensch das mimische und gestische Vokabular des Darstellers im Mittelpunkt -- im letzten Kapitel schlägt Balázs für die dänische Stummfilmdiva Asta Nielsen gar ein Gebärdenlexikon vor, um ihr gesamtes Ausdrucksspektrum zu ermessen --, geht er in Der Geist des Films über die Inszenierung vor der Kamera und ihre Reproduktion im Bild hinaus: Er widmet sich, unter dem Einfluss vor allem Eisensteins, Montage- und Bildkompositionstechniken. Gerade aber dessen Umsetzung der intellektuellen Montage lehnt er als Hieroglyphenfilme und Bilderrätsel ab und stellt dem sein Konzept des "Assoziationsfilms" gegenüber -- Montage als offenes Wechselspiel zwischen den einzelnen Bildern und vor allem zwischen Leinwand und Betrachter, als "Suggestionsverfahren", das dem "irrationellen, halluzinativen Charakter der sinnlichen Wahrnehmung" sein Recht lasse. Der sichtbare Mensch und Der Geist des Films setzen Standards, die uns -- sei es im Kino oder überhaupt in unserer täglichen Wahrnehmung -- zur Gewohnheit geworden sind. Sie sind faszinierende Zeugnisse einer Wieder- und Neuentdeckung des Sehens, und vielleicht hilft ihre Lektüre uns, die wir ob des Bilderübermaßes inzwischen mit Blindheit geschlagen sind, wieder ein wenig die Augen zu öffnen. --Mark Stöhr