Messe H-Moll Bwv 232
Preis 30.43 USD
Als die Bachforschung Mitte der 80er Jahre beweisen konnte, dass nicht Die Kunst der Fuge, sondern die Zusammenstellung der H-Moll-Messe Bach in seinen letzten Lebensjahren beschäftigt hat, rückte der theologische Aspekt im Schaffen Bachs, den man zwischenzeitlich als in den späten Leipziger Jahren zunehmend bedeutungslos sehen wollte, wieder ins Zentrum der Betrachtung. Freilich besteht die Messe zum größten Teil aus schon vorher in anderen Zusammenhängen komponierten Einzelteilen, aber sie erfuhren zum Zeitpunkt der Kompilation teilweise grundlegende Umgestaltung. Zumindest das "Et incarnatus est" ist jedoch eine sehr späte, möglicherweise sogar die letzte Komposition Bachs. Sie steht in der Messe neben dem "Crucifixus", der Kontrafaktur eines Satzes aus der frühen Kantate BWV 12: Frühe und späteste Schichten im Schaffen Bachs fügen sich völlig bruchlos aneinander. Bachs Große Catholische Messe ist mit ihren enormen technischen Anforderungen ein Meilenstein für jedes Ensemble, dass sich ihrer annimmt. Ton Koopman wagte sich mit seinen bewährten Musikern im Jahre 1994 an dieses Stück. Er gehört unter den Protagonisten der historischen Aufführungspraxis zu den "Gemäßigten", denn er besetzt seinen Chor im Gegensatz zu Andrew Parrott und Joshua Rifkin, die jeweils schon in den 80er Jahren eine Aufnahme der Messe vorlegten, nicht solistisch, sondern mit einem Ensemble von knapp dreißig Sängern. Sein Chor ist damit etwas kleiner als der, den John Eliot Gardiner für seine Aufnahme verwendete; anders als Gardiner stuft Koopman jedoch die Besetzungsstärke nicht innerhalb einzelner Sätze ab. Wenn der Amsterdam Baroque Choir mittlerweile auch an Qualität noch deutlich gewonnen hat, wie die CDs der Kantaten-Reihe Koopmans beweisen, war er jedoch auch 1994 im Großen und Ganzen schon ein sehr gutes Ensemble: In guter klanglicher Ausgewogenheit und agogisch äußerst differenziert gelingen beispielsweise die Rahmensätze des Kyrie-Komplexes, und der Gloria-Schlußsatz "Cum Sancto Spiritu" beeindruckt durch entfesselte Virtuosität. Koopmans prägende Hand ist allerdings am stärksten in der nuancierten, detailverliebten Gestaltung des Orchesterparts zu hören: Selbst an der Truhenorgel den Continuo flexibel und einfallsreich ausführend, gibt er beispielsweise dem Orchestersatz der Altarie "Qui tollis" in einzigartiger Weise eine unmittelbar zum Hörer sprechende Gestalt. Die Gesangssolisten, Koopmans altes Quartett, das er für die Kantatenserie mittlerweile mehrfach umgestaltet hat, hinterlassen keine so geschlossenen Eindruck: Guy de Mey, das wird spätestens im "Benedictus" deutlich, ist technisch überfordert. Barbara Schlick singt schön und differenziert, aber bisweilen mit flackernder, unruhiger Stimmgebung, und Kai Wessels schön geführte Altstimme ist manchmal etwas stumpf. Klaus Mertens bestreitet seine Part solide und wohltönend; als Bariton ist er jedoch bei "Et in Spiritum Sanctum" besser aufgehoben als im "Quoniam". Insgesamt ist die Aufnahme mit derjenigen Gardiners von 1985 vergleichbar und zählt somit zu den führenden Einspielungen der H-Moll-Messe. --Michael Wersin