Saga: Roman
Preis 9.65 USD
Es gibt Geschichten, die -- ähnlich wie gutes Kino -- traumwandlerisch sicher zwischen Gefühl und Lakonie balancieren. Und manchmal -- kennen Sie das? -- stellt sich beim Lesen noch der zugehörige Soundtrack ein. Mir jedenfalls ging, als ich Tobias Hülswitts Saga las, eine fünf Jahre alte Platte nicht mehr aus dem Kopf. "Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse/Fahrradfahrer dieser Stadt/Ich bin alleine und ich weiß es/Und ich find" es sogar cool/Und ihr demonstriert Verbrüderung". Das Kleinstadt-Elend in der Adoleszenz hatte plötzlich einen Namen: "Freiburg". Tocotronics Digital ist besser traf mich, der ich meine Kleinstadt längst verlassen hatte und aus schieren Altersgründen auch nie mehr "Teil einer Jugendbewegung" sein würde, mitten ins Herz. Der bleepende, fiepende "Freiburg V3.0"-Remix des Elektro-Tüftlers Console avancierte im Sommer 2000 zum Club-Hit, waren Jugendfreizeitzentren, Deutsch-Leistungskurse und Universitäts-Mensen bevölkert von jungen Menschen mit Arne-Zank-Brillen, Dirk-von-Lowtzow-Schüttelfrisuren und distinktionssicher in Berliner Secondhand-Läden zusammengekaufter Streetwear. Vielleicht die Zielgruppe, die die Marketingstrategen des Jugendmagazins Jetzt und des Verlags Kiepenheuer & Witsch anpeilen? Saga, so liest man, ist der Auftaktband einer neuen, gemeinsamen Buchreihe. In 19 wie hingetupft wirkenden Geschichten erzählt Hülswitts Roman von einer Provinz-Jugend in den Zeiten der Kohl-Ära. Keine "unerhörten Begebenheiten", eher Momentaufnahmen, "short cuts", die wie beiläufig aus der Hüfte geschossen wirken -- tatsächlich aber sorgfältig bis ins letzte Detail gearbeitet sind. "Freiburg" ist überall: In den Korkuntersetzern und Gläsern der elterlichen Schrankwand, im "zur Begegnungsstätte umgebauten Bauernhof", der als Runninggag durchs Buch geistert wie die allgegenwärtigen possierlichen Burgen, "die sich bei uns im Wald nur so tummelten". Wir erleben die sommerlichen "Hutzelschlachten" der Dorfkinder, Geburtstags-Knutschereien zu "Kuschelrock", wir belauschen Mädchengespräche beim "Textilen Gestalten". Später der erste Joint, der erste Sex. Die Umwelt-AG stellt gelbe Tonnen auf den Schulhof, für den Müll mit dem grünen Punkt. Revolution im Gartenzwergformat. Und einmal, nach dem C-Jugend-Turnier, in einer verräucherten Spelunke am TV: Der Boxkampf Tyson gegen Holyfield, und ein abgebissenes Ohrläppchen. "Konni, das war ein Weltereignis". Man wird das Gefühl nicht los, dass die letzten großen Ferien von Philipp, Jasmin, Jürgen, Theo und all den andern nie zu Ende gehen. Hülswitts unvollkommener, überaus sympathischer Icherzähler nimmt seinen Job ernst und die Dinge beim Wort: Die Frage, ob man "Mikrophon" mit "f" oder "ph" denkt, warum ein Zeichenkurs nicht, was doch logischer wäre, "Zeichnenkurs" heißt, ist für ihn genauso wichtig wie die korrekte Benennung der sekundären Geschlechtsmerkmale: "Ich schob mich ein Stück weiter die Matratze hinauf und wunderte mich über ihre Unachtsamkeit, als sie... wie zufällig ihren Arsch, den ich damals noch nicht Arsch, sondern Po oder Hintern nannte, an meinen Schwanz drückte, den ich damals noch nicht Schwanz, sondern Glied oder Pimmel nannte." Sagte man noch "geil" oder schon "cool"; hieß es "volltexten" oder "zuschallen"? Dass Hülswitts Protagonisten gleich in der Auftakterzählung in eine Max-Goldt-Lesung geraten, dürfte kein Zufall sein. O.K., mögen Sie jetzt sagen: Ein Roman über den Abschied von der Jugend, witzig erzählt -- kennen wir. Nichts Neues. Was Saga jedoch vor zahlreichen anderen Büchern, die sich diesem Sujet verschrieben haben, auszeichnet, ist sein Erzählton. "Richtige Wörter", so behauptet jedenfalls der Brautigan-Übersetzer und begnadete Geschichtenerzähler Günter Ohnemus, "haben eine Körpertemperatur von ungefähr 37 Grad". Ein Wert, den Hülswitt über weite Strecken seines Romans nahezu spielend erreicht. Ach ja: Für die Literatur-Großkritiker erschien Saga wohl zur Unzeit -- ein Taschenbuch, mitten im Sommer. War da was? "Fräuleinwunder" und die "Enkel von Grass & Co." sind längst durchs mediale Dorf getrieben, Provinzgeschichten im "unerschütterlichen Es-war-einmal-Sound" (F.A.Z.) stehen auch nicht eben hoch im Kurs. Wenn er wenigstens Pole wäre oder Grieche oder Comic-Künstler: Alles Buchmesse-Schwerpunkte. Aber so... Weiter geht"s, Ex und Pop: Tanz den Stuckrad-Barre! Do the Kumpfmüller! Reichlich dumm, wenn auch im Fall von Tobias Hülswitt und seinem wunderbar witzigen, wunderbar traurigen ersten Buch Tocotronic Recht behielten: "Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit." --Niklas Feldtkamp